Wohlstand für alle
Ein Unternehmen erfolgreich führen und trotzdem moralisch handeln. Geht das? Ja, sagt Dr. Manfred Wittenstein, der am 2. September 2017 seinen 75. Geburtstag feiert, und nennt nachfolgend gute Gründe, sich der Verantwortung zu stellen. Nicht nur als Unternehmer, nicht nur als Ingenieur, sondern auch als einer der vielen Menschen, die sich und ihren Kindern eine gute Zukunft ermöglichen wollen.
Es geht uns gut. Wir hier in Deutschland hatten das Glück, in eine Region hineingeboren zu werden, die nicht von existenzbedrohenden Naturkatastrophen heimgesucht wird, in der Kriege nicht ganze Dörfer und Städte vernichten, wo fast alle ein Dach über dem Kopf haben und genug zu essen bekommen. Vielleicht stehen wir gerade deshalb immer wieder vor der Frage, wie wir mit diesem geschenkten Glück umgehen. Sollen wir es mit Macht gegen all die verteidigen, die weniger Glück hatten? Oder können wir stattdessen Möglichkeiten finden, von denen alle profitieren? Es ist heute noch ein Traum, aber ich bin sehr wohl davon überzeugt: Wir können einen lebenswerten Wohlstand für alle erreichen.
Herangewachsen bin ich unter Menschen, die der Zweite Weltkrieg geprägt hatte. Schreckensstarr wagten sie keinen Blick zurück. Stattdessen eilten sie vorwärts und suchten im wirtschaftlichen Erfolg die Sicherheit, die ihnen abhandengekommen war.
Mit dem jugendlichen Snobismus eines Abiturienten wusste ich: So will ich nicht leben. Ich ging nach Berlin. Denn an der Technischen Universität lehrten Dozenten, die uns junge Ingenieure immer wieder an unsere Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft erinnerten. Nie wieder Krieg, das war die Losung und unsere Aufgabe, auch als Ingenieure. In dieser Welt wollte ich leben und selbst lehren.
Aber dann wurde zuhause in Igersheim meine Hilfe gebraucht, dem elterlichen Unternehmen ging es nicht gut. Verrückte Jahre folgten, Aufbrüche und Irrwege kreuzten sich in rascher Folge. An der Verantwortung für die Mitarbeiter trug ich schwer, aber nicht minder schwer trugen die Mitarbeiter an der Verantwortung für das ins Schlingern geratene Unternehmen. Aber wir haben es geschafft. Gemeinsam.
Am Ende dauerte es fast zehn Jahre, bis die Mitarbeiter mich wirklich akzeptierten. Ich verlangte ihnen aber auch einiges ab. Sauberkeit am Arbeitsplatz beispielsweise. Für die meisten war ich zunächst ein junger Schnösel von der Universität, der die gestandenen Handwerker aufforderte, ihren Rummel doch bitteschön aufzuräumen. Warum es trotzdem funktionierte? Vielleicht weil ich Geduld hatte. Mit mir und vor allem mit den anderen. Und weil ich immer damit rechnete, auch mein Gegenüber könnte Recht haben. Mit seinen Argumenten. Oder meinetwegen auch mit seiner Bockigkeit.
Später, als die schwierigsten Jahre hinter uns lagen, habe ich meine engsten Mitarbeiter gefragt, warum sie damals nicht abgesprungen sind. Warum sie Nächte durchgearbeitet haben, um einen Auftrag pünktlich auszuliefern. Sie gaben mir die erwartbaren Antworten: Weil sie eine Familie zu ernähren hätten und weil das Unternehmen sie brauchte. Das ist sicher alles richtig, aber, wenn ich mich an die Stunden erinnere, an denen wir miteinander an der Werkbank standen, dann bin ich mir sicher, da war noch viel mehr. Ich glaube, ohne dass wir darüber sprachen wussten wir alle, wir würden es nur gemeinsam, miteinander schaffen.
Später habe ich immer wieder versucht, diesem besonderen Geist unseres Unternehmens zu seinem Recht zu verhelfen. In unserer Unternehmensphilosophie stehen dafür die Worte „Verantwortung, Vertrauen, Offenheit, Innovation und Wandel“. Diese Worte benennen, wie wir handeln und wie wir leben möchten. Unsere Werte sind nicht statisch, sondern müssen ständig weiterentwickelt und mit neuem Leben erfüllt werden. Diese Aufgabe hat im vergangenen Jahr der neue Vorstand übernommen, dem auch meine Tochter Anna-Katharina angehört.
Seit meinem Wechsel in den Aufsichtsrat bleibt mir Zeit, mich intensiver mit Themen zu beschäftigen, die über das operative Geschäft hinausgehen.
WITTENSTEIN, das mechatronische Technologieunternehmen, das sich aus dem kriselnden Familienbetrieb entwickelt hat, sah sich immer als Teil der Gesellschaft. Wir haben unseren Beitrag dazu geleistet, unsere Region, unser Taubertal, zu einem attraktiven Standort für all die Menschen zu machen, die hier leben – und auch für die, die hier einen Arbeitsplatz finden. Gelungen ist uns das, weil wir mit unseren Initiativen nicht alleine standen, sondern es viele Unternehmen gab und gibt, die eine ähnliche Entwicklung wollten. Wir sind gemeinsam ein ordentliches Stück vorangekommen.
Ähnlich verantwortungsvoll haben wir versucht, unser Engagement in den Ländern zu gestalten, in denen wir unsere Tochtergesellschaften gründeten. So schien es uns beispielsweise sinnvoll, über die Struktur der Berufsausbildung an unseren Standorten in Rumänien und in den USA mit den zuständigen Organisationen ins Gespräch zu kommen. Zumindest für die USA kann man derzeit den Eindruck gewinnen, dieser gemeinschaftliche Weg sei an seinem Ende angekommen. Oder brauchen wir nur abzuwarten, bis das Pendel in die andere Richtung ausschlägt? Haben wir die Zeit, darauf zu warten?
Vor uns, vor der gesamten Menschheit, liegen viele schwierige Aufgaben. Nur zwei Beispiele: Wie nah sind wir dem Punkt, an dem sich die Überhitzung unseres Planeten durch CO2-Emmissionen nicht mehr umkehren lässt? Das kann heute noch niemand sagen. Oder: Was ist zu tun, um möglichst vielen Menschen ein lebenswertes Dasein zu ermöglichen? Wir können versuchen zu verstehen, was ein Mensch erhofft, der sich auf die gefahrvolle Reise übers Mittelmeer nach Europa begibt. Sie flüchten doch nicht, weil sie den Deutschen ihre Butter auf dem Brot nicht gönnen. Sie brauchen ein paar Chancen, wenigstens auf ein besseres Leben.
Seit dem Beginn meines Studiums bin ich davon überzeugt, dass Technik einen Beitrag zu einer besseren Welt leisten kann. Nicht nur im Taubertal, nicht nur in Deutschland, sondern überall auf unserem Planeten. Doch was uns, den Ingenieuren und Wissenschaftlern, dazu einfällt, muss sich zwingend immer wieder der gesellschaftlichen Diskussion stellen und ist nur dann ein sinnvoller Beitrag zur Zukunft, wenn es von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragen wird.
Denn Technik ist nie einfach nur gut oder einfach nur schlecht – das ist immer nur eine Behauptung von Demagogen. Der Hammer liegt genauso geschmeidig in der Hand des Heimwerkers, der einen Nagel einschlägt, wie in der Hand des Verbrechers, der seinem Opfer den Schädel zertrümmert. Trotz gegenteiliger Behauptungen ist es bis heute unmöglich, die Langzeitfolgen von technologischen Entwicklungen abzusehen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie toll es anfangs war, Lebensmittel mit Folienverpackungen länger frisch halten zu können. Und heute? Treibt der Plastikschrott in riesigen Wirbeln durch die Ozeane.
1972 veröffentlichte der Club of Rome das Buch „Die Grenzen des Wachstums“, eine bemerkenswerte und ziemlich düstere Abhandlung über die Zukunft der Weltwirtschaft. Viele der Voraussagen sind nicht eingetreten. Aber nicht, weil der Club of Rome damals Unrecht hatte. Sondern weil der Bericht viele kluge Menschen aufrüttelte und Überlegungen in Gang setzte. Ich bin zutiefst davon überzeugt: Solange wir die Augen offenhalten, können wir es schaffen. Der menschliche Geist hat ein unglaubliches Reservoir und Potenzial und wir werden Lösungen finden, wenn wir uns gemeinsam darum bemühen. Natürlich ist das ein sehr optimistischer Blick in die Zukunft. Ja, ich bin Optimist. Nichts Anderes hätte einen Sinn.
Zur Person
- Am 2. September 1942 wurde Manfred Wittenstein in Berlin geboren. Von 1962 bis 1970 studierte er an der TU Berlin Wirtschaftsingenieurwesen, blieb zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität, ehe er sein erstes eigenes Unternehmen gründete. Als er 1979 das elterliche Unternehmen für Handschuhnähmaschinen übernahm, hatte es 50 Mitarbeiter, die wirtschaftliche Situation war angespannt. Die Entwicklung des spielarmen Planetenradgetriebes und die Gründung der Tochtergesellschaft WITTENSTEIN alpha, damals noch alpha Getriebebau, markieren den Zeitpunkt des Umschwungs: Heute hat die WITTENSTEIN SE 2.400 Mitarbeiter, ist in rund 40 Ländern vertreten und hatte im Geschäftsjahr 2016/17 einen Umsatz von 339 Mio. Euro. Manfred Wittenstein ist verheiratet und hat vier Kinder.
- Für seine Leistungen als Unternehmer wurde Manfred Wittenstein mehrfach ausgezeichnet: Er erhielt den „Preis Deutscher Maschinenbau 2015“ für sein Lebenswerk und die Innovationskultur der WITTENSTEIN gruppe (2015), war „Entrepreneur des Jahres 2011“ in der Kategorie Industrie, ist Träger des Bundesverdienstkreuzes am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland für „Unternehmerischen Erfolg und Verantwortung für das Gemeinwesen“ (2010), Doktor-Ingenieur Ehren halber (Dr.-Ing. E.h.) der Fakultät für Maschinenwesen der Technischen Universität München „in Anerkennung seiner außergewöhnlichen Leistungen und Ideen zu Forschung und Entwicklung innovativer Antriebssysteme und bei der zukunftsweisenden Unternehmensführung“ (2008), Träger der Staufermedaille für besondere Verdienste um das Land Baden-Württemberg (2002) und Träger der Wirtschafts-medaille des Landes Baden-Württemberg für herausragende Verdienste um die Wirtschaft (1997).
Von 10/2007 – 10/2010 war Manfred Wittenstein Präsident des Verbands Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) e.V., von 11/2008 bis 11/2011 Vizepräsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), seit 06/2006 ist er Mitglied der Forschungsunion Wirtschaft – Wissenschaft und seit 03/2015 Sprecher und Vorsitzender des Lenkungs-kreises der Allianz Industrie 4.0 Baden-Württemberg.
- 2015 erhielt die WITTENSTEIN SE den Hermes-Award, Deutschlands wichtigsten Innovationspreis, für die Entwicklung des elementar neuen Galaxie® Antriebssystems. Das Unternehmen ist seit 2007 mit dem Zertifikat „berufundfamilie“ für seine familienfreundliche Personalpolitik ausgezeichnet. Manfred Wittenstein ist Initiator des DEBUT Klassik-Gesangswettbewerbs (seit 2002).
Dr. Manfred Wittenstein, Aufsichtsratsvorsitzender der WITTENSTEIN SE
Das Portrait entstand im Juli 2017 im Foyer der WITTENSTEIN Innovationsfabrik am Firmenhauptsitz in Igersheim-Harthausen – ausgestellt sind dort u.a. mehrere Werke des deutschen Fotokünstlers Michael Najjar, wie das im Bildhintergrund teilweise sichtbare aus der Serie „Outer Space“.
Bild: WITTENSTEIN SE/Joachim Schmeisser